Sounding Linz - Texte

„Kleine Einführung in ein Denken mit den Ohren für Sounding Linz“
Sam Auinger (2021/22)

Ein Denken mit den Ohren ermöglicht uns auditive Qualitäten einer Situation oder eines Ortes zu erkennen, eine vorgefundene Atmosphäre zu lesen und Wirkungszusammenhänge, die sich im Hörbaren offenbaren, bewusst zu machen. Wenn wir ein Klangereignis hören und es entschlüsseln, d. h. darin eine Bedeutung oder eine ästhetische Qualität erkennen, sind vier verschiedene Systeme im Spiel:

– die Akustik
– physiologische Disposition und Psychoakustik
– Kulturelle Rahmenbedingungen
– Persönliche Geschichte

Akustik

Wenn wir ein Schallereignis hören, nehmen wir den Schall hauptsächlich als Schwingungen in der Luft wahr. Schall breitet sich in Wellen aus, die sich bei Raumtemperatur mit einer Geschwindigkeit von 343 Metern pro Sekunde bewegen.

Wenn wir den Gesang einer Amsel oder das leise Dröhnen eines vorbeifahrenden Motorrads hören, nehmen wir verschiedene Tonfrequenzen (Tonhöhen) wahr, die als Schwingungen oder Oszillationen pro Sekunde oder Hertz (Hz) beschrieben werden können. Wir können Frequenzen von 16 bis 20.000 Hz wahrnehmen. Dies ist der Hörbereich des menschlichen Ohrs. Entsprechend der Schallgeschwindigkeit bedeutet dies, dass die niedrigste Frequenz, die wir hören können (16 Hz), eine Wellenlänge von 21 m hat und die höchste (20 kHz) 1,7 cm lang ist.

Im Alltag erleben wir jedoch nie ein Schallereignis in seiner reinen Form. Die meisten Schallereignisse setzen sich aus einem Spektrum vieler Frequenzen zusammen. Alles, was wir hören, hat mit den materiellen Bedingungen der Umgebung zu tun, in der das Schallereignis stattfindet. Zum Beispiel hören wir nichts ohne Reflexionen,ohne Schall, der von Materialien und Gegenständen abprallt. Die Welt spricht zu uns.

Diese primären Bedingungen führen zu verschiedenen Effekten, die unseren Hör-Raum formen. Weit verbreitet sind: Filterung, Färbung, Nachhall, Echo und Dopplereffekt.

Beachten Sie, dass jedes Objekt, ob gebaut oder gewachsen, Schallereignisse entweder als Ganzes oder in Teilen seines Frequenzspektrums reflektiert, je nach Größe, Form, Oberfläche und Materialität des Objekts. Diese Verstärkung oder Abschwächung bestimmter Frequenzen eines Klangs wird als Filterung bezeichnet.

Wie ein Ort das Spektrum (die Verteilungsfunktion aller beteiligter Frequenzen) eines Klangereignisses und dessen Verbreitung beeinflusst, wird als Färbung bezeichnet. Denken Sie daran, wie anders Ihre Stimme im Badezimmer im Vergleich zum Wohnzimmer klingt.

Hall (Nachhall) entsteht durch kontinuierliche Reflexionen von Schallwellen in einem geschlossenen Raum oder in einem natürlich umschlossenen Gebiet. Ein Klangereignis ist länger hörbar. Je größer ein Raum desto mehr Nachhall können wir darin erleben. Denken Sie nur an Klangereignisse wie Stimmen in Kathedralen, Rufe in einer Unterführung oder in einem Wald mit alten und hohen Bäumen.

Wenn aber die Reflexionen einer Schallwelle so stark verzögert werden, dass sie als eigenständiges Hörereignis wahrgenommen werden können, nennen wir sie Echos. Wir erleben dies, wenn wir vor weit entfernten großen Objekten im freien Raum schreien oder klatschen.

Wenn wir in der Nähe von sich bewegenden Schallquellen gehen oder stehen, z.B. auf einer viel befahrenen Straße, nehmen wir die Tonhöhe eines Schallsignals, das sich auf uns zubewegt, als höher wahr, als es tatsächlich ist. Dagegen wird das gleiche Signal, das sich entfernt, als tiefer wahrgenommen. Hören Sie einmal genau hin, wenn Sie das nächste Mal die Sirenen von Einsatzfahrzeugen hören: Hier zeigt sich der Doppler-Effekt am besten.

Ein Zitat von Tony Conrad bringt es auf den Punkt: „Geschichte ist wie Musik, ganz in der Gegenwart.“ Dies wird hörbar, wenn wir feststellen, dass das Heute – in seinen Aktivitäten – in den Räumen spricht, die im Gestern – mit all ihren akustischen Wirkungszusammenhängen – gebaut und gestaltet wurden.

Physiologische Disposition und Psychoakustik

Unser Hören ist weder physiologisch noch psychoakustisch stabil. Es verändert sich je nach Alter, Lebensumständen und Erfahrungen. Leider wird unsere Fähigkeit, auditive Informationen zu entschlüsseln, mit dem Alter geringer. Je älter wir werden, desto enger wird unser Hörbereich. Dabei nimmt unsere Fähigkeit, hohe Klänge zu hören, immer mehr ab. Die räumliche Orientierung und die Sprachverständlichkeit werden zunehmend schwieriger. Das liegt daran, dass gesprochene Sprache aus Vokalen und Konsonanten besteht und letztere hochfrequent sind. Etwas ähnliches passiert bei der Lokalisation im Raum. Diese hängt von unserer Fähigkeit ab, die Reflexionen der hohen Frequenzanteile eines Geräuschs oder Klangereignisses zu erkennen, was folglich für ältere Menschen schwieriger wird.

Zusätzlich verwendet unser Gehör mehrere Tricks, Abkürzungen und Schutzschilde, die es uns ermöglichen, in komplexen Klangumgebungen zu navigieren. Zum Beispiel passt sich unser Gehör immer an die durchschnittliche Lautstärke der Umgebung an. Das Hören von Musik in einem ruhigen Raum erfordert weniger Lautstärke als das Hören überKopfhörer im Bus oder in der U-Bahn. Ein weiterer Wahrnehmungstrick besteht in der Fokussierung auf ein bestimmtes Frequenzspektrum; der berüchtigte Cocktailparty-Effekt ist ein solches Beispiel: Wir haben keine Schwierigkeiten, unsere Aufmerksamkeit auf die Rede eines bestimmten Sprechers zu richten, indem wir irrelevante Informationen aus der Umgebung ausblenden (Augoyard und Torgue 2006).

Um ein „Denken mit den Ohren“ zu beginnen – hilft es zu begreifen, dass wir alle verschieden hören und wir daher dieselbe akustische Situation alleine schon aus physiologischen Unterschieden verschieden bewerten und entschlüsseln.

Kultureller Rahmen

Die Kultur prägt, was die akustische Umgebung dominiert. Sie prägt, wie wir den öffentlichen Raum nutzen, wie und wann jemand eine ruhige Umgebung als respektvoll oder als gefährlich wahrnimmt, wie einzelne Signale und Geräusche wahrgenommen und verstanden werden, zum Beispiel ob das Hupen als Zeichen der Aggression oder als freundliche Mitteilung verstanden wird.
Der physische Ort ist nur eine leere Hülle, solange keine lebenden Akteure ihn bespielen. Sie verwandeln den physischen Ort in einen kulturellen Raum. Darüber hinaus sind die kulturellen Praktiken und historischen Rahmenbedingungen dafür, wie Menschen handeln, interagieren, eine gegebene Umgebung wahrnehmen und interpretieren, mit Affekten undSehnsüchten, Ängsten und auch Ablehnung aufgeladen. Der schnellste Weg, ein Verständnis dafür zu entwickeln, ist, mit der Wahrnehmung der eigenen unmittelbaren Kultur zu beginnen.

Persönliche Geschichte

Es gibt keine Handlung ohne Klang. Was wir hören und wie wir hören, ist durch  Wiederholung konditioniert, ist eine Hörgewohnheit. Was wir bewusst und unbewusst hören, ist Teil unserer Sozialisation und beeinflusst unseren Geschmack. Wenn man aus einer stolzen Stahlarbeiterfamilie stammt, hat man eine andere Einstellung zu Industriegeräuschen als jemand, der in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen ist. Ein spannender Weg, dies besser zu verstehen, ist es, ein großes Interesse an Klangereignissen und Klangumgebungen zu entwickeln, die man bevorzugt oder ablehnt, und dann darüber nachzudenken, warum und wie sich diese persönlichen Vorlieben entwickelt haben.

Nachsatz

Wenn wir konkret beginnen innezuhalten und zuzuhören und eine Praxis dafür entwickeln, dann wird sich unweigerlich ein Gedächtnis für Klänge, akustische Räume und Situationen einstellen. Unsere dabei bewusst erlebten Hör-Erfahrungen und die entstehenden Fragen und Verständnisse formen eine Sprache für das Gehörte. Orte und Räume beginnen zu sprechen und unsere Lebenswelten beginnen andere Geschichten zu erzählen. Wir denken mit den Ohren.

Sam Auinger (Sounding Linz) ist Sonic Thinker, Komponist und Sound Artist. Geboren in Linz (Austria), lebt und arbeitet in Linz und Berlin. 

Sam Auinger erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, unter anderem den Kulturpreis der Stadt Linz 2002 und den SKE Publicity Preis 2007. 1997 war er gemeinsam mit Rupert Huber Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD (berliner theorie). 2008/2009 war er Stipendiat an der Cité International des Arts in Paris und wurde 2010 erster Stadtklangkünstler in Bonn. 2011 war er Featured Artist bei der Ars Electronica in Linz.

In den Jahren von 2008 bis 2012 war er Professor an der UdK Berlin und leitete den Fachbereich experimentelle Klanggestaltung im Masterstudiengang Sound Studies. Von 2013 bis 2015 war er ein Associate am GSD (Harvard Graduate School of Design) in Harvard und 2017 Gastdozent im Programm Art Culture and Technology am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge).

Links:

soundinglinz.at ist ein Projekt des Co.Lab Akustische Ökologie der Kunstuniversität Linz.

Videostream von 20 – 21 Uhr: Die visuelle Klangwolke 2020

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