Genaues Hin- und Zuhören sagt oft mehr über die Welt als genaues Hinschauen. Diese Überzeugung liegt auf jeden Fall der Akustischen Ökologie mit Soundscapes und Sound Studies zugrunde. Sie soll systemisch denken, also vertikal und horizontal vernetzt, historisch genauso, wie kulturell und naturwissenschaftlich. Ein tatsächlich politischer Ansatzpunkt ist ein Zitat des in Berlin lebenden Klangkünstlers Sam Auinger: „Das Jetzt resoniert im Vergangenen.“
Das ist durchaus wörtlich gemeint. Und wir sind fast versucht, statt „resoniert“ „räsoniert“ zu schreiben. Was ist damit gemeint? Alles, was wir sprechen und hören, ist bewegte Luft. Alles, was sich bewegt, bewegt die Luft. Sie ist das, was wir Schall nennen, und damit das kommunikative Medium unserer Gesellschaft. Architektur und Stadtplanung formen die Behältnisse für die Luft. In ihnen bewegt sie sich und wird an den Begrenzungen wie Mauern, Wänden, Decken oder Böden zurückgeworfen. Sie klingt zurück, sie resoniert. Somit überformt die Vergangenheit – also das Gebaute – ununterbrochen das Jetzt. Das ist tatsächlich physisch respektive physikalisch der Fall. Der Akustiker nennt dieses Phänomen „Raumantwort“, also englisch-lateinisch „Reverb“. Natürlich können wir dieses Phänomen auch metaphorisch, also metaphysisch denken.
Die gleiche Handlung, der gleiche gesprochene Satz klingt in unterschiedlichen Räumen anders. Wenn wir in der Schule sprechen, ist es ein anderes Sprechen als am Bahnhof oder im Wohnzimmer. Der gleiche gesprochene Satz klingt nicht nur anders in anderen Räumen, er ist auch anders. Denn die Vergangenheit überformt das Jetzt. Daher denken wir auch an räsonieren, weil auf diese Weise viele Beweg- und Hintergründe historischer und kultureller Gegebenheiten klar werden, eben die Raison, das Warum.
Da capo: Schall ist Luft. Die Luft wird eingeschlossen, reflektiert und geformt von Bauwerken, deren Volumina, Oberflächen und Gestalt die Ideen des Vergangenen repräsentieren. Und vice versa überformen die Bauwerke von Heute die Zukunft … (und nicht nur) … die zu hörende.
Das Politische an der Akustik lässt sich schon am Wort Per-son ablesen. Daran kann man Schall als conditio sine qua non erkennen, denn das Wort heißt einfach „Durch-Klinger“. Schall ist Garant für die volle Teilhabe an der Gesellschaft. Nur er garantiert, dass der Mensch eine Stimme hat und Gehör findet. Und Nicht-Hören geht nicht. Wir hören immer. Einfach, weil das Gehör der wichtigste Sinn ist zur Warnung vor Gefahr. Und auch um Raum zu hören. Hören ist der einzige Sinn, der über alles hinterdem Rücken informiert. Damit das alles so funktioniert, funktioniert das Hören zum größten Teil unbewusst. Durchaus reflexartig.
Das nennen wir das Schnelle Hören. Damit es funktioniert, also das Hören, das uns das Leben rettet, wissen wir nicht, was und wie wir hören. Das ist der Preis für das Schnelle Hören. Es gibt praktisch kein bewusstes Hören. Aber es gibt ein integriertes, ein systemisches Hören. Es bedeutet, dass alle Sinne im Hirn integriert, also zusammengerechnet werden. Und zwar zu einem sinnvollen und vor allem widerspruchsfreien Bild der Welt. Zu so einem Bild, das uns unbewusstes, instinktives, reflexives Reagieren ermöglicht.
Der technische Fortschritt ermöglichte, dass LKW leiser wurden. Deshalb kann es sein, dass LKW mit höherer Tonnage, die also schwerer und größer sind, leiser sind. Entgegen den Erwartungen hat das auf gesundheitliche Lärmschäden kaum Auswirkungen. Warum? Phylogenetisch steuert folgendes Programm Hirn und Hormone: groß = laut & gefährlich, größer = lauter & gefährlicher. Da nützt alles Messen nichts. Die Anreicherung von Hormonen führt zu einer Zunahme von Herzkreislauferkrankungen.
Lärm kommt vom italienischen „allarme“ bzw. französischen „alarme“, als „zu den Waffen!“. Die (deutschsprachige) Idee von Lärm kommt aus dem Krieg. Das englische „noise“ kommt vom lateinischen „nausea“, der Seekrankheit. Hier finden wir die Idee der Desorientierung, also des Verschwimmens von Raum und Zeit. Das verweist auf die enge Verschränkung von Raumwahrnehmung, Gleichgewichtssinn und Hören.
Hören ist also vielfältig prädisponiert und determiniert.
Die Conclusio ist die Skepsis gegenüber dem Hören. Die anfängliche Überzeugung, dass genaues Hin- und Zuhören oft mehr über die Welt sagen als genaues Hinschauen, ist somit verflogen. Paul Watzlawicks Frage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ stellt sich hier im Akustischen. Wir können von
einem akustischen Konstruktivismus sprechen. Das, was gehört wird ist – defensiv betrachtet – das Ergebnis komplexer Filterprozesse. Die Filter basieren auf kulturellen, individuellen, psychischen, phylo- und ontogenetischen, sinnes-integrativen und vielen weiteren Dispositionen. Das Hirn baut die Hörwelt.
Wer die Perspektive um 180 Grad wendet, kann das allerdings auch so nennen:
Hören ist somit ein (er)schaffender Akt, ein Prozess einer Wirklichkeitsbildung, eine Kunst. Jeder Mensch erschafft eine eigene akustische Wirklichkeit. Seinen Text „The Future of Music: Credo“ (1937/1958) beginnt John Cage programmatisch: „Wherever we are, what we hear is mostly noise. When we ignore it, it disturbs us. When we listen to it, we find it fascinating.“ Faszinierend, weil unsere gestalterische Kraft gefordert ist. Und zwar nicht virtuell, sondern echt. All das zusammen sind Überlegungen einer Anthropologischen Akustik. Sie fragt, welche Bedürfnisse der Mensch über Schall
befriedigt.
„Echt“ sind die Wellen, die mit 340 Metern pro Sekunde durch den Raum sausen. „Echt“ ist, dass die tiefsten Wellen, die wir hören können, über 17 Meter Länge haben, die höchsten nur 1,7 Zentimeter. Alle Wellen werden ununterbrochen reflektiert. Schall ist also per se eine Funktion des Raumes, und damit auch die Musik, die (mit der Architektur) die Schallkunst schlechthin ist. Dagegen erklärte Bruno Maderna einmal, eine miserable musikalische Aufführung könne einem zeitgenössischen Werk eigentlich nichts mehr anhaben. Durch die Partitur und das graphische Zeichensystem könne man doch „erlesen“, ob das Werk etwas wert sei oder nicht, man es also gar nicht hören müsse. Ein grandioser Irrtum. Schall ist nur körperlich-räumlich zu verstehen, – oder?
Echt ist, was unser Gehirn daraus macht.
Klänge sind systemisch zu verstehen, – und zwar in allen denkbaren Dimensionen: kulturell/historisch, geographisch, technologisch, psychologisch, physiologisch, physisch, physikalisch.
Hören bedeutet für uns
das reflektierende Hören,
das frei erinnernde Hören und
das bild- und tongestützte erinnernde Hören,
mit Notizen von Beobachtungen, Gedanken, Gefühlen, Problemen, Ängsten,
das Festhalten von typischen akustischen Konstellationen,
das Schreiben von Gedächtnisprotokollen und
das Reflektieren der Reflexionen in der Gruppe.
Peter Androsch (Sounding Linz) betreibt Schallkunst: Schall gestalten, verstehen, festhalten. Sein breites Œuvre wird hier in den vier Feldern Komponieren, Musizieren, Phonographie und Hörstadt (Akustik) dargestellt.
Peter Androsch leitet das Co.Lab Akustische Ökologie an der Kunstuniversität Linz und erhielt den ÖSTERREICHISCHEN STAATSPREIS FÜR MUSIK 2023.
soundinglinz.at ist ein Projekt des Co.Lab Akustische Ökologie der Kunstuniversität Linz.